Michael Hirsch: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft
Datum/Zeit
Datum - 27.04.2016
Uhrzeit - 18:00 - 20:00
Veranstaltungsort
Scoutopia
Kategorien
„Weniger arbeiten, damit alle arbeiten, und besser leben können“
Am 27.04.2016 besuchte Michael Hirsch das Scoutopia, um im Rahme der Reihe „neue Arbeitswelten“ einen Vortrag über die Arbeitsgesellschaft zu halten. Michael Hirsch hat Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte studiert und kürzlich in Siegen zu dem Titel „Überwindung der Arbeitsgesellschaft“ habilitiert.
In seinem Vortrag vertrat er die These, dass die relevanten gesellschaftlichen Akteure ein falsches Ziel verfolgen: Mit der „Vollzeit“ würde eine bestimmte Vorstellung von Arbeitsnorm propagiert, die vielfältige Auswirkungen hat. Die Vollzeit-Ideologie hat eine wachsende soziale Ungleichheit, geschlechtsspezifische Unterschiede, globale Ungleichheit, ökologische Folgekosten und allgemein eine Verschlechterung der Lebensbedingungen zur Folge, da eine bestimmte Vorstellung von dem „Erstrebenswerten“ zementiert wird. Vertreten wird diese Idee des „Normalen“ von vielfältigen Akteuren wie Medien, Wissenschaften, Politik oder Tarifpartner, die Hirsch in ihrer Funktion als Hegemonieapparate charakterisierte.
Die Verkürzung des Arbeitstages sei einer der ältesten utopischen Wünsche, der bereits in Thomas Morus Werk „Utopia“ von 1516 thematisiert worden sei. Um dies zu erreichen – so die These Hirschs – müsste die Arbeitsgesellschaft als solche überwunden werden. Derzeit gibt es eine Dominanz von Lohnarbeit, die sich nicht nur Tarifpolitisch und Sozialpolitisch niederschlägt, sondern auch kulturell-ideologisch untermauert ist: Es wird als normal angesehen, morgens aus dem Haus zu gehen, eine gewisse Zeit abzuleisten und dann wieder nach Hause zu gehen. Was hierbei unter den Tisch fällt ist die sogenannte „Reproduktionsarbeit“ – Kochen, Putzen, Kinder versorgen,… Hier liegt der feministische Impuls von Hirschs Vortrag: Diese Arbeiten werden traditionell von Frauen übernommen, während die Männer „arbeiten gehen“. Eine Kritik an der Arbeitsgesellschaft kann diese Ungleichheit mit in den Blick nehmen.
Die Pointe in Hirschs Argumentation liegt darin, dass von Stand der Produktivkräfte (also dem technischen Fortschritt und der Organisation der Arbeit) andere gesellschaftliche Organisationsverhältnisse möglich wären. Diese Anachronismusthese formulierte Adorno folgendermaßen: „Vollbeschäftigung wird zum Ideal, wo Arbeit nicht länger das Maß aller Dinge sein müsste.“[1]
Dies liegt einerseits an der erwähnten Ideologie der Beschäftigung (im Sinne von Lohnarbeit), andererseits aber auch an der Rolle des Staates: Arbeitsbeschaffung. Der Erfolg von Regierungen bemisst sich an Kennzahlen wie Arbeitslosenquote. So kann keine Alternative in den Blick genommen werden. Neben der Manipulation von Arbeitslosenstatistiken wird „Normalität“ auch in anderen Bereichen durch den Staat geprägt. So wirken die Vorgaben für die Rentenkassen normierend, da nur diejenigen, die lückenlos Vollzeit eingezahlt haben, auch etwas herausbekommen.
Frauen – oder wie Hirsch es mit Blick auf die Pluralisierung von Lebensformen Ausdrückte: „Wesen mit Betreuungsaufgaben“ – kommen in diesem System nur als Abhängige vor. Eine mögliche Lösung ist es, die ehemalige „Frauenarbeit“ in bezahlte Dienstleistungen umzuwandeln. Eine Alternative wäre, bezahlte und unbezahlte Arbeit besser und auf alle zu verteilen, indem die Arbeitszeit verkürzt wird.
Hieraus leitet Hirsch vier Forderungen ab:
Erstens: Alle Staatsbürger*innen müssen die gleiche demokratische und soziale Beteiligung an den verschiedenen sozialen Lebensbereichen der Wirtschaft, der Familie und des Gemeinwesens haben. Derzeit gibt es eine starke Spaltung in Überbeschäftigte einerseits und Unterbeschäftigte andererseits. Hier für Ausgleich zu sorgen, sei ein Ziel.
Zweitens: In der aktuellen neoliberalen Variante der „Geschlechtergleichheit“ wird die weibliche Befreiung als Unterwerfung unter typisch männliche Lebensentwürfe gestaltet. Eine progressive Forderung hingegen muss dahin gehen, dass die männlichen Lebensmuster den weiblichen angepasst werden.
Drittens: Die Arbeitswelt muss für ökologische Nachhaltigkeit sorgen. Hierfür braucht es den Bruch mit dem Paradigma des Wachstums.
Viertens: Es muss eine anspruchsvolle kulturelle Idee eines guten Lebens für alle entwickelt werden. Hier sieht Hirsch ein kulturelles Problem: Die Nicht-Befriedigung falscher Bedürfnisse (Marcuse) wird als Verlust empfunden. Ein erster Schritt bei der Änderung des Lebenswandels kann die Kultur des „Selbermachens“ sein.
Als Schlussfolgerung der oben skizzierten Problemanalyse und der gerade aufgestellten Forderungen analysiert Hirsch mehrere Kampfplätze für die Auseinandersetzung.
- Mit dem französischen Sozialphilosophen Bourdieu zeigt Hirsch auf, dass Gesetze auch immer eine Symbolische Bedeutung haben und als Sprechakt eine spezifische Normalität konstruieren. Dies gilt zum einen für Elterngeld, das nicht nur einen finanziellen Anreiz bietet, sondern es auch sozial akzeptabel macht, als Mann zu Hause zu bleiben, zum anderen aber auch für das Rentensystem, in dem eine bestimmte Idee von normalem Arbeitsverhältnis transportiert wird. Insofern kommt der staatlichen Gesetzgebung eine starke Rolle zu.
- In der Tarifauseinandersetzung muss die Arbeitszeit eine größere Rolle spielen. Versuchen die Gewerkschaften derzeit in manchen Branchen Überstunden zu reduzieren, müssten sie eigentlich avantgardistisch geschlossen für die „Teilzeit für Alle“ kämpfen.
- Ganz konkret muss sich der/die Einzelne fragen, wie die Geschlechterverhältnisse innerfamiliär aufgeteilt werden. Viele Menschen mit einem progressiven Bewusstsein für die Geschlechterungleichheit werden durch die Dynamik der Kräfteverhältnisse in eine Retraditionalisierung gedrängt. An irgendeinem Punkt wird abgewogen, wie das Haushaltseinkommen maximiert werden kann – meist durch die Vollzeitbeschäftigung des Mannes.
Insgesamt lässt sich laut Hirsch die Arbeitsgesellschaft überwinden, wenn man Hegemonien in sozialen Normen und kulturellen Systemen aufbricht. Es geht darum, die herrschende Lebensweise zu reflektieren und eine bessere Lebensweise ernsthaft zu fordern.
[1] Theodor W. Adorno: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt 1975, S. 43f.
__________________________________________________
Veranstaltungsankündigung:
____________
Am 27. April besucht uns Dr. Michael Hirsch. Er ist Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen, Dozent an der Münchner Volkshochschule und freier Autor. Im Januar 2016 erschien sein Buch „Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit“. Eine Übersicht über sein Buch findet sich auf der Verlagshomepage: http://www.springer.com/de/book/9783658099305
In diesem Vortrag spricht er über nicht weniger als einen fortschrittlichen Gesellschaftsvertrag – eine Reorganisation des Alltags:
Politische Ideen sind nicht dadurch relevant, dass sie neu sind, sondern dadurch, dass in ihnen ein gesellschaftspolitisches, emanzipatorisches Potenzial steckt. Ausgehend von André Gorz’ Gedanken aus den 1980er Jahren skizziert der Vortrag eine ökologische und soziale Entwicklungsperspektive unserer Gesellschaft. Das Programm einer radikalen gesamtgesellschaftlichen Reduktion der Normalarbeitszeiten ist eine solche noch immer uneingelöste Fortschrittsidee. In ihr verbinden sich vier zentrale freiheitliche Ziele:
1.) Gleiche soziale und demokratische Beteiligung aller Staatsbürger an den verschiedenen sozialen Lebensbereichen der Wirtschaft, der Familie und des Gemeinwesens.
2.) Ambitionierte Vision von Geschlechtergleichheit, die mehr ist als ihre aktuelle neoliberale Variante der Unterwerfung weiblicher Befreiung unter typisch männliche Lebensentwürfe und Arbeitsgestaltung.
3.) Ökologische Nachhaltigkeit.
4.) Eine anspruchsvolle kulturelle Idee eines guten Lebens für alle.